Stefan Matysiak: 300 Jahre Presse in Hildesheim (Hildesheimer Allgemeine Zeitung) (Ausschnitt
ohne Fußnoten aus: Dreihundert Jahre 'Hildesheimer Allgemeine Zeitung'.
Traditionsbildung und publizistische Entwicklung einer Heimatzeitung. In:
Verlag Gebrüder Gerstenberg (Hg): 300 Jahre 'Hildesheimer Allgemeine
Zeitung'. Seitenblicke. Hildesheim 2005, S. 21-49)
[...]
Anfang des 17. Jahrhunderts
war die Stadt Hildesheim nur schlecht mit
Beide Zeitungen berichteten
ihren Lesern nicht über Hildesheimer Begebenheiten, sondern über
Geschehnisse aus ganz Europa. Einerseits sprachen sich viele örtliche
Begebenheiten in der kleinen Stadt auch so herum, andererseits hätte
eine lokale Berichterstattung auch sehr schnell den Argwohn der Zensoren
erregt. Diese Befürchtungen bestand bei Berichten über
Ereignisse, die außerhalb des Hildesheimer Macht- und Einflussbereiches
lagen, nicht.
Nüchtern und sachlich
wurden alle eingehenden internationalen Meldungen, die den Redaktionen
aus anderen Zeitungen, durch Reisende oder Korrespondenten bekannt wurden,
hintereinander weg gedruckt. Wegen ihres schlichten Inhalts – eine Kommentierung,
Erörterung und politische Einordnung fand nicht statt – konnten diese
Nachrichtenblätter von der Obrigkeit trotz aller Zensur weitgehend
problemlos geduldet werden. Überschriften gab es nicht, stattdessen
wurde am Nachrichtenbeginn lediglich ein Herkunftsort und ein Datum angegeben.
Die Zeitungen hatten vier bis acht Seiten und erschienen mehrmals in der
Woche, anfangs zwei- und später dreimal wöchentlich. Die Bevölkerung
Hildesheims war in dieser Zeit mit der ‚evangelischen Stadtzeitung‘ und
der ‚katholischen Landeszeitung‘ sehr gut mit Nachrichtenblättern
versorgt.
Mit diesen beiden Zeitungen
öffnete sich für die Hildesheimer erstmals der Horizont weit
über das eigene kleine Blickfeld hinaus. Im 17. Jahrhundert, als die
Schlachten des 30jährigen Krieges die deutschen Lande verheerten,
konnte sich die Bevölkerung mit Hilfe der Zeitungen orientieren, wie
nah oder fern die Auseinandersetzungen noch vom eigenen Dom waren. Mehr
noch im 18. Jahrhundert rückten durch die Zeitungen die europäischen
Hauptstädte und Fürstenhöfe an Hildesheim heran, und auch
fernere Länder wurden bekannt.
Im Verlaufe des 18. Jahrhundert
entwickelten sich die Deutschen wegen dieser Berichterstattung zu einem
Volk von Lesern, und die Zeitung wurde langsam bis hinunter in die niedrigeren
Schichten zum beliebtesten Lesestoff. Ende dieses Jahrhunderts erschienen
für die drei bis vier Millionen Menschen in ganz Deutschland rund
200 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von bis zu 300.000 Exemplaren. Damit
konnte sich ein gutes Drittel der männlichen Bevölkerung regelmäßig
über das Weltgeschehen informieren. Kein anderes Druckerzeugnis
trug im 18. Jahrhundert mehr dazu bei, die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten
an weltlichen Lesestoff. Indem sie über die geografischen und politischen
Entwicklungen in der weiten Welt einführte und die Bevölkerung
mit der weiten Welt bekannt machte, wurde die Zeitung zum ersten Instrument
der Erwachsenenbildung in Deutschland.
Da die Nachrichtenblätter
weiter nur selten über lokale Begebenheiten berichteten, standen die
Zeitungen in ihrer überregionalen Berichterstattung auch in einer
überregionalen Konkurrenz. Große Zeitungen wie der Hamburgische
unpartheyische Correspondent, von dem 1705 auch Johann Christian Hermitz,
der Gründer des Hildesheimer Relations-Couriers gekommen war,
erreichten am Ende des 18. Jahrhunderts in ganz Deutschland eine Auflage
von 30.000 Stück, die wenige Jahre später sogar auf 56.000 Exemplaren
angestiegen war. Auch der Rat der Domstadt hatte vor der Lizensierung
des Hildesheimer Relations-Couriers ein auswärtiges, nämlich
in Hamburg erschienenes Nachrichtenblatt abonniert. Im Stadtarchiv
Hildesheim sind so noch heute aus dem zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
einige Jahrgänge des Hamburger Relations-Curiers archiviert.
Mit der Genehmigung des
Hildesheimer
Relations-Couriers waren die Hildesheimer für internationale Meldungen
nicht mehr allein auf auswärtige Blätter angewiesen, sondern
konnten ihr Nachrichtenbedürfnis innerhalb der eigenen Stadtmauern
befriedigen. Die Leser der evangelischen Stadtzeitung erfuhren so, dass
der deutsche Kaiser seinem Generalfeldmarschall, Graf von Romanzow, ein
goldenes Tabaksgefäß geschenkt hatte und der päpstliche
Nuntius in Warschau an einer Feier teilnahm. Oder sie konnten lesen,
dass die Franzosen 1.800 neue Rekruten bekommen hatten, die Österreicher
ein Interesse an der Region La Spezia besaßen und gegen die Hauptstadt
Korsikas eine Landblockade errichtet worden war. Solche Meldungen
von internationalen Kriegsschauplätzen, ausländischen Fürstenhöfen
sowie sensationelle Berichte wurden den Hildesheimern weiter einfach unkommentiert
und ohne jede Gliederung hintereinander weg angeboten.
Die Zeitung wurde dabei
weniger im stillen Kämmerlein konsumiert, sondern an öffentlichen
Orten wie Wirtshäusern gemeinschaftlich genossen, kommentiert und
diskutiert. In ganz Deutschland entstanden spezielle Lesegesellschaften,
in denen sich oft ein Dutzend Personen ein Zeitungsabo teilte. Es
gründeten sich außerdem Lesezirkel, die selbst Analphabeten
die aktuellen Geschehnisse vermittelten. Die sich immer weiter verbreitenden
Zeitungen erreichten großflächig selbst die Landbevölkerung,
und in ganz Deutschland verbreitete sich eine „Zeitungswuth“. Auch
in Hildesheim entwickelten sich verschiedene “Klubs, Konditoreien usw.”
zu Orten der gemeinschaftlichen Zeitungslektüre.
Das große Interesse
an den von der evangelischen Zeitung verbreiteten Nachrichten hielt sich
jedoch lediglich rund ein Jahrhundert. Ende des 18. Jahrhunderts erlebte
das Interesse der Hildesheimer an der Zeitung einen Einbruch. Unabhängig
davon, ob die Bevölkerung politischen Geschehnissen generell unbeteiligt
gegenüber zu stehen begann oder einfach nur der ‚katholischen‘
Hildesheimschen Zeitung den Vorzug vor der qualitativ nachlassenden Konkurrenz
zu geben begann, die Auflage der Vorläuferin der Hildesheimer
Allgemeinen Zeitung nahm deutlich ab.
Damals gehörten zu
den Lesern der Zeitung gebildetere Privatleute wie Lehrer, Juristen, Ärzte,
Pastoren und Handwerksmeister, zudem die städtischen Verwaltungsstellen
sowie die Kreisbehörden, nicht mehr jedoch die ganz einfachen Bevölkerungskreise.
Die Inhalte blieben weiter sehr begrenzt. Den Zeitungen mangelte es noch
an einem speziellen Anzeigen- und Wirtschaftsteil. Im Verlaufe der
Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Frankreich, die 1806 zur
französischen Herrschaft über das Fürstentum Hildesheim
führen sollte, wurde nun auch über die internationalen Begebenheiten
eine scharfe Zensur errichtet, die jede Berichterstattung entwertete.
Lokale Informationen waren ebenfalls weiter nicht vorhanden. Durch
diese Beschränkung der Berichterstattung sparte die Vorgängerin
der HAZ den eigentlichen Lebensbereich der Hildesheimer Leser fast vollständig
aus.
Zudem dürften zumindest
für die einfachen Hildesheimer die sogenannten Intelligenzblätter
einen höheren Nutzwert als die zumeist politischen Berichte des 1775
in Privilegirte Hildesheimische Zeitung umbenannten Relations-Courier
bedeutet haben. Anders als die überregionalen Nachrichtenblätter
waren diese Intelligenzblätter eng mit den lokalen Verhältnissen
und dem Alltagsleben ihrer Leser verknüpft. Sie enthielten neben
Anzeigen jene lokalen Informationen, die für das alltägliche
Leben notwendig waren, wie Preistabellen für die Grundnahrungsmittel
oder die amtlichen Bekanntmachungen.
Als nach dem Tode der Privilegirten
Hildesheimischen Zeitung nach einer Pause von drei Jahren im Jahre
1807 die Stadt-Hildesheimische privilegirte Zeitung und Anzeigen für
alle Stände entstand, befand sich Hildesheim wieder in einer für
die norddeutschen Lande eher seltenen publizistischen Situation: Bis zum
Revolutionsjahr 1848 existierte im gesamten Hannoverschen Gebiet außer
in Emden mit der Ostfriesischen Zeitung keine Zeitung, die über
politische Geschehnisse berichtete. Selbst die in der Landeshauptstadt
erschienene Hannoversche Morgenzeitung war eigentlich belletristischer
Natur und berichtete nur eingeschränkt über Politik. Wer im Land
politische Nachrichten lesen wollte, musste auf Blätter aus Bremen,
Hamburg, Kassel oder Frankfurt zurückgreifen. Ausgerechnet in Hildesheim
jedoch gab es gleich zwei Zeitungen und damit eine publizistische Konkurrenzsituation.
Während sich in anderen
Städten die Zeitungen entweder auf die überregionalen politischen
Nachrichten oder aber auf das Anzeigenwesen konzentrierten, fehlte jedoch
zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Hildesheim ein besonderes Intelligenzblatt
für den Abdruck von Bekanntmachungen und privaten Anzeigen. Das für
die Domstadt gültige amtliche Intelligenzblatt hatte seinen Sitz in
Magdeburg und war damit weit von Hildesheim entfernt. Auch durften Hildesheimer
Zeitungen seit 1804 gegen eine nach Magdeburg zu überweisende Gebühr
wieder Anzeigen abdrucken.
Als Johann Daniel Gerstenberg
1807 die Tradition der vom evangelischen Stadtrat privilegierten Zeitung
wieder aufnahm, sollte das wiedergeborene Blatt deshalb sowohl die Funktion
eines überregionalen Nachrichtenblattes als auch eines Intelligenzblattes
vereinen und neben überregionalen Nachrichten auch lokale Anzeigen
sowie Ratschläge für Hof und Garten veröffentlichen. Gerstenberg
forderte zudem gleich 1807 den Status als kommunales amtliches Bekanntmachungsblatt
ein, den die von der katholischen Landesherrschaft privilegierte Hildesheimsche
Zeitung innehatte und den die Gerstenbergsche Zeitung ab 1812 übernahm.
Mit diesem amtlichen Status konnte die Zeitung zum einen ihren Lesern wichtige
Informationen über kommunale Angelegenheiten zugänglich machen.
Zugleich war damit ein Grundstock an Auflage verbunden, denn die Zeitung
wurde damit für die örtlichen Bürgermeister und Entscheidungsträger
zum Pflichtblatt.
So begann das Wiedererscheinen
der HAZ-Vorgängerin mit internationalen Meldungen und Anzeigen sowie
- um den Nutzen für die Leser zu erhöhen – mit „Belehrung und
Unterhaltung“. Die Zeitung erhielt dazu 1808 eine besondere Sonntagsbeilage,
die die Käufer fesseln sollte. Um die Verbindung zur Leserschaft
zu erhöhen, versuchte Gerstenberg gezielt die Abonnenten an der Gestaltung
zu beteiligen. Die Leser wurden deshalb aufgerufen, ihre eigenen „Erfahrungen
in der Naturkunde, der Lebenskunst, dem Ackerbau und in der Haushaltung“
mitzuteilen. Der ganze hintere Teil der Gerstenbergschen Zeitung
war auf diese Weise als Intelligenzblatt gestaltet. Dieser Teil enthielt
zumeist drei oder vier Aufsätze oder Erzählungen, bei denen es
sich auch um Fortsetzungen handeln konnte. Thematisiert wurden die Stadtgeschichte,
Tipps und Tricks für die Land- und Gartenwirtschaft oder landeskundliche
Beiträge. Die Leser erfuhren so, wie man den in Europa noch neuen
Mais nutzt, seine Gewächse vor Erdflöhen schützt oder Kastanien
zieht. Mit diesen Texten wurden die Leser für das Fehlen lokaler
Informationen entschädigt, deren Veröffentlichung weiterhin nicht
zugelassen war.
Mit dieser Mischung richtete
sich die Zeitung ausdrücklich nicht nur an einige gebildete Leser,
sondern an sehr breite Bevölkerungsschichten, weshalb sich die Stadt-Hildesheimische
privilegirte Zeitung und Anzeigen 1807 den bis Mitte des 19. Jahrhunderts
gültigen Zusatz „für alle Stände“ zulegte.
Anders als die häuslichen
Tipps und Tricks scheinen dagegen die überregionalen politischen Meldungen
für die Leser zu Beginn des 19. Jahrhunderts relativ unergiebig gewesen
zu sein. Unter Napoleons Bruder Jérôme, König von Westfalen,
der seit 1806 auch über Hildesheim herrschte, hatte die zuvor schon
übliche Zensur noch zugenommen. Die Berichterstattung der Zeitungen
begann in der Folge mit Meldungen und Verordnungen aus der neuen westfälischen
Hauptstadt Kassel. Ab 1810 durften die überregionalen Nachrichten
sogar nur noch wörtlich aus dem in Kassel erschienenen Zentralorgan
Moniteur
sowie aus anderen französischen Zeitungen abgeschrieben werden.
Eine aktuelle Berichterstattung war nicht vorhanden, die Meldungen waren
teilweise bis zu acht Wochen alt. Politische Themen, die die Öffentlichkeit
hätte interessieren können, waren nicht erlaubt. Die für
Napoleon ungünstigen Kriegsmeldungen wurden unterdrückt oder
sogar in ihr Gegenteil verkehrt. So kam es, dass in der Zeit Napoleons
„die damaligen Zeitungsmeldungen fast ausschließlich von dem unsterblichen
Ruhm des politischen Diktators sprachen“ und Verleger Gerstenberg
keine Chance sah, dem Interesse der Leser nach politischen Meldungen entgegen
zu kommen.
Während sich die Möglichkeiten
der internationalen Berichterstattung nach dem Abzug der Franzosen wieder
verbesserten, konnten sich die Leser über Geschehnisse, die im wirtschaftspolitischen
oder kommunalen Gebiet wurzelten, in weiten Teilen der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts weiter nicht informieren. Große Mühe
machte das Zusammenstellen der Zeitung deshalb nicht. Noch 1842 war die
redaktionelle Tätigkeit eher „gering und wenig zeitraubend“, Meldungen
und Nachrichten wurden von anderen Zeitungen genommen, hinzu kamen
vereinzelt Berichte über Naturereignisse aus der Stadt selbst und
der näheren Umgebung. Den Lesern schien dieses Angebot jedoch
durchaus zu genügen. Die Auflage stieg von 300 Stück im Jahre
1807 auf 540 im Jahr 1819 und erreichte im Jahr 1834 den Hochpunkt von
1.350 Exemplaren. Damit wurde ein großer Teil der rund 14.000
Einwohner der Stadt erreicht.
Die Bedürfnisse der
Bevölkerung nach Orientierung in ihrem lokalen Umfeld deckte die Hildesheimische
Zeitung und Anzeigen, wie die spätere Hildesheimer Allgemeine
Zeitung jetzt hieß, vor allem mit der Marktberichterstattung.
Nach der Wiedergründung 1807 erschienen in der Zeitung monatlich die
von der Polizei amtlich festgesetzten Brot-, Fleisch- und Fruchtpreise.
Nach der Preisfreigabe wurden Preisberichte gedruckt, die die Leser über
die Marktlage informierten.
Als die Franzosen die Gewerbefreiheit
einführten, bedeutete dies einen starken Aufschwung des Anzeigenwesens,
da nun die Hersteller von Produkten deren Vorzüge anzupreisen begannen.
Das Anzeigengeschäft ermöglichte der Presse dabei „erstmals einen
konsequent lokalen Bezug“, indem die Zeitungen damit die wirtschaftlichen
Bedingungen vor Ort spiegelten. Während diese ökonomischen Informationen
für die normale Bevölkerung von Interesse waren, blieben die
abgedruckten Wertpapierberichte der Börsen aus Kassel, Hannover, Braunschweig
und Magdeburg aber lediglich für eine sehr kleine besitzende
Schicht von Belang.
Wichtig für die Leserschaft
waren neben den Wirtschaftsanzeigen auch die Kleinanzeigen und amtlichen
Inserate. In letzteren wurden zum einen die vom Gericht beaufsichtigten
Zwangsverkäufe angekündigt, zum anderen sollten sich anlässlich
von Konkursverfahren Gläubiger melden. Privatverkäufer boten
in der Zeitung Grund und Boden an, Advokaten priesen ihre Künste.
Vieh und andere landwirtschaftliche Produkte wurden angeboten, Wohnungen
vermietet und Geld zum Verleih gegeben. Für die Vermittlung
von Stellen entwickelten sich die Zeitungen gar zum exklusiven Ort.
Bis weit in die erste Hälfte
des 19. Jahrhunderts hinein war es aber vor allem die Unterhaltung, die
die Leser von ihrer Zeitung verlangten. Der Verleger handelte „in dem Bewusstsein,
daß nur ein möglichst hoher Stamm von ‚Unterhaltungslesern‘
die Existenz seiner Zeitung garantierte. Bei allen seinen Überlegungen
mußte er diese Zielgruppe im Auge haben, und er dürfte sich
im wesentlichen als Kind seiner Zeit auch mit diesem Zustand begnügt
haben“.
Vor allem nachdem das Ende
Napoleons dazu geführt hatte, dass die Sieger in Deutschland die politischen
Verhältnisse wieder stark autoritär restaurierten, wuchs gleichzeitig
das politische Bewusstsein und der Protest in der Bevölkerung, die
von den Zeitungen auch eine Kommentierung und die Beschäftigung mit
kommunalen Angelegenheiten zu fordern begann. Aufgrund der politischen
Zensur konnte die HAZ-Vorgängerin jedoch diese Wünsche der Leser
anfangs nur sehr eingeschränkt erfüllen.
Hildesheim wurde nach dem
Ende der französischen Fremdherrschaft 1813 dem Königreich Hannover
eingegliedert, das in Personalunion mit dem britischen König befand.
Die HAZ-Vorläuferin berichtete jedoch weiter lediglich über die
großen, internationalen politischen Ereignisse, so das Geschehen
am königlichen Hof in London, etwa den Scheidungsprozessen von König
Georg IV. Informationen aus Hildesheim und Umgebung waren zumeist
nur enthalten, insofern es sich um Naturereignisse und derlei Geschehnisse
handelte.
Erst im weiteren Verlauf
der 1830er Jahre lockerte sich in Hildesheim die Zensur. In ihrer
Folge konnten die Leser sich erstmals mit Leserbriefen an der Gestaltung
der Zeitung beteiligen, es erschienen kommentierende Leitartikel, und Ansätze
einer öffentliche Debatte entstanden. Die Hildesheimer verlangten
nun offen eine Berichterstattung aus der eigenen Stadt, und lokale Informationen
wurden wichtiger, jedoch gab es noch keine parteipolitisch geführten
Auseinandersetzungen. Denn es „ermangelte [...] einerseits wohl dem ‚Redakteur‘
und den ‚Parteiführern‘ noch des Mutes, unter der Angabe ihres Namens
durch entsprechende Ausdruckgebung ihrer Ueberzeugung in der Zeitung auf
die Willensbildung anderer einzuwirken, andererseits kam man wohl zufolge
traditioneller Einstellung noch nicht auf den Gedanken, die politische
Presse diesem Zwecke nutzbar zu machen“. Als die Personalunion von
Hannover und Großbritannien 1837 aufgelöst und Hannover verselbständigt
wurde, nahm die Zensur wieder zu, trotzdem blieb die Bevölkerung
politisch sensibilisiert und interessiert.
Zu einem parteipolitischen
Engagement der Zeitungen kam es seit Ende der 1830er Jahre, als sich im
Königreich Hannover und auch in Hildesheim ein politischer Richtungsstreit
zwischen Liberalen und Konservativen entwickelte. Dieser schlug sich nach
und nach in Ansätzen auch in den Zeitungen nieder, und in ganz Deutschland
verlangte die Bevölkerung vor allem in den Jahren vor der Revolution
von 1848 immer mehr nach Parteiblättern. Während die traditionell
evangelische Zeitung des Gerstenberg-Verlags sich seit Anfang der 1840er
Jahre zu liberalen Ideen hingezogen fühlte, hielt es die katholisch
orientierte Hildesheimsche Zeitung seit Ende der 1830er Jahre mit
den Konservativen. Für die Leser wurde dieser politische Unterschied
jedoch wegen der staatlichen Zensur lediglich in der Art und Weise der
Zusammenstellung der Meldungen deutlich: Die Zeitungen bekannten durch
die Auswahl der „Nachrichten aus größeren deutschen Tagesblättern
gleicher Richtung ihre Parteifarbe“. „Nur durch allerlei Kunstgriffe
und Umschweife gelang es, die Hülle hin und wieder zu lüften.“
Gleichwohl kam es vereinzelt zum Abdruck „tendentiöser Artikel“,
die zusehends auch kommunale Angelegenheiten betrafen: Die Gerstenbergsche
Zeitung informierte ihre Leser immer dort, „wo es galt, auf irgendeinem
Gebiete Neuerungen zu vertreten oder bestehendes zu kritisieren“.
Sie brachte Beiträge über die Notwendigkeit der öffentlichen
Erneuerung des Straßenpflasters oder begrüßte die Arbeit
einer Ortsgruppe liberaler Katholiken. Dabei spitzte sich der religiös-politische
Konflikt zwischen den Konfessionen zu und spaltete schließlich die
Stadt soweit, dass 1845 die katholischen Geistlichen „die Lesung [...]
der Gerstenbergschen Zeitung aber bei Kirchenbuße und Verdammnis
verboten“. Obwohl die Zeitungen durch die Nachrichtenauswahl bestimmten
politischen Lagern zugehörten und die Öffentlichkeit dies durchaus
auch wusste, wurde die politische Richtung weiter nur indirekt deutlich,
und die Zeitungen konnten wegen der Zensur weiter keinerlei prägenden
Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. Die Redaktionen jener
Zeit brachten noch immer lediglich Nachrichten, direkte politische Äußerungen
oder gar Handlungsaufforderungen waren damals noch das Geschäft anonymer
Flugschriften, in denen etwa über die zu hohen Steuerlasten geklagt
werden konnte.
Mit der Stadtverfassung
von 1851/52 erwarb Hildesheim die Anfang des Jahrhunderts verlorene Selbständigkeit
in der Verwaltung zurück, und ein frei gewählter Magistrat entstand,
so dass die Gerstenbergsche Zeitung nun direkten Einfluss auf die Gestaltung
der Hildesheimer Stadtpolitik und die Ausgestaltung des kommunalen Gemeinwesens
nehmen konnte. Als Mittel der Diskussion und des Gedankenaustauschs
trug die Zeitung in der Folge dazu bei, neue kommunalpolitische Vorstellungen
zu entwickeln und den selbstbestimmten Aufbau kommunaler Strukturen zu
fördern. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die GerstenbergscheHildesheimer
Allgemeine Zeitung und Anzeiger damit im großen und ganzen
„ihre endgültige Gestalt und ihren modernen Charakter“ erhalten.
Die Hildesheimer Allgemeine
Zeitung richtete sich im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
anders als heute nicht an die ganze Bevölkerung, sondern seit Mitte
des Jahrhunderts vor allem an liberale Leser und ab 1867 vor allem an die
Sympathisanten der Nationalliberalen Partei, als deren Organ sich die Zeitung
bekannte. Nicht nur politisierte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts
die Öffentlichkeit, auch durch das politische Engagement ihrer Eigentümer
wurde die Hildesheimer Allgemeine Zeitung Teil der parteipolitischen
Auseinandersetzungen. Denn nicht nur die Zeitung war parteinah, auch die
Gerstenbergs selbst engagierten sich auf der öffentlichen Bühne.
Der Verleger Albert Gerstenberg war seit den 1860er Jahren Vorsitzender
der Handelskammer, Abgeordneter im preußischen Landtag sowie kommunalpolitisch
aktiv. Sein Sohn Albert setzte dieses Engagement fort. Die Zeitung
wurde in der Folge „zu dem zeitweise maßgeblichen Parteiblatte in
der Provinz“. Die Hildesheimer Allgemeine Zeitung war mit
dem Engagement der Verleger - wie weitestgehend die ganze deutsche Presse
- fest in kommunale Machtstrukturen eingebunden, eine Stellung, die
sie auch in den nächsten Jahrzehnten beibehalten sollte. Das Interesse
der Bevölkerung an dieser Hildesheimer Allgemeinen Zeitung
stieg insbesondere seit den 1850er Jahren an. Nachdem die Auflage in den
1840er Jahren noch bei täglich 1.200 Stück stagniert hatte, wurden
1859 täglich rund 1.500 Stück verkauft, 1896 schon das vierfache,
5.000 Exemplare. Die Einwohnerzahl Hildesheims hatte sich in dieser Zeit
von 17.000 auf 39.000 lediglich gut verdoppelt.
Die politische Ausrichtung
von Zeitung und Verlegerfamilie traf insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts
die Interessenlage der Leserschaft. In der Konkurrenz der Hildesheimer
Zeitungen entwickelte sich die Hildesheimer Allgemeine Zeitung Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts zunächst zur auflagenstärksten Zeitung
und ließ mit ihrer liberalen Weltsicht die anfangs noch führenden
Konkurrenten Hildesheimer Kurier und Hildesheimsche Zeitung
bald deutlich hinter sich. In den ersten anderthalb Jahrzehnten des zwanzigsten
Jahrhunderts vervierfachte sich die Auflage erneut. 1915 gab das Blatt
schließlich an, soviel Exemplare zu verkaufen, wie alle anderen Konkurrenten
zusammen.
Nicht nur das nationalliberale
Bürgertum mit der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, sondern
auch andere Parteien hatten in Hildesheim ihnen politisch zuneigende Zeitungen.
Jede große politische Strömung außer den Sozialdemokraten
konnte im Kaiserreich in Hildesheim auf ein eigenes Blatt zurückgreifen.
Die Bauernschaft und Konservativen lasen den Hildesheimer Kurier.
Zur Befriedigung der katholischen Oberen entwickelte sich die Hildesheimsche
Zeitung seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum Blatt der Zentrumspartei,
eine Konfessionspartei für alle Katholiken vom adligen Großgrundbesitzern
bis zu christlichen Gewerkschaftern. Offiziell parteilos war bis zum ersten
Weltkrieg lediglich das 1890 gegründete Hildesheimer Tageblatt,
das für die Hildesheimer Allgemeine in den ersten Jahren des
20. Jahrhunderts die größte Konkurrenz bedeutete. Eine
fünfte Zeitung, der ebenfalls 1890 gegründete General-Anzeiger,
konnte sich lediglich bis Mitte des Jahrzehnts halten und starb nach einigen
Umbenennungen.
Der erste Weltkrieg und
die Nachkriegsschwierigkeiten bedeuteten für die Hildesheimer Presse
insgesamt eine Zäsur, die führende Position der Hildesheimer
Allgemeinen bei den Lesern konnte jedoch nicht gefährdet werden.
Dagegen verschwand der 1869 gegründete Hildesheimer Kurier
1921 vom Markt, das 1890 gegründete Hildesheimer Tageblatt
bereits 1914.
Zusätzlich erschien
in der Domstadt jedoch seit 1923 das Hildesheimer Abendblatt , eine
Tochter der Niederdeutschen Zeitung aus Hannover. Diese rechtsextreme
Zeitung „fand Anklang in Kreisen, die ein solches Blatt bislang entbehren
mussten“: Die Zeitung richtete sich an jene Hildesheimer, die die
Republik offen ablehnten und bekämpften. Wie die 1929 rund 6.000
Käufer zeigen, scheint die Zahl rechtsextremer Bürger in Hildesheim
nicht gering gewesen zu sein.
Eine inhaltliche Untersuchung
der Zeitungsinhalte, insbesondere auch in der politisch bewegenden Zeit
des ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik, steht zwar noch aus, alle
diese Hildesheimer Zeitungen beteiligten sich jedoch rege an den politischen
Debatten der Zeit, die schließlich zum Ende der Demokratie führten.
Das sozialdemokratische
Hildesheimer
Volksblatt wurde im April 1933 zwangsweise geschlossen und deren Einrichtungen
dem 1932 gegründeten nationalsozialistischen
Hildesheimer Beobachter
übertragen. Auch das Hildesheimer Abendblatt ging noch
1933 ein, und dessen Leser wurden von der NS-Presse übernommen.
Im Nationalsozialismus wurden
die Lokalzeitungen zum wichtigen Vehikel völkischer Politik: „Ebenso
unzertrennlich wie Kirche und Rathaus mit Stadt und Dorf ist das Heimatblatt
mit der Heimat verbunden. Tief in der Heimaterde verwurzelt, empfängt
die Heimatzeitung aus den Urelementen des Bodens und des Volkstums Kraft
und Leben,“ priesen NS-Zeitungsforscher die neue Zeit. Die Zeitungen agierten
nun nicht mehr als die Organe politischer Parteien, sondern hatten den
Vorgaben der nationalsozialistischen Machthaber zu folgen, die statt der
unterschiedlichen Parteien nur noch Volksgenossen kannten. Sämtliche
noch bestehende Blätter hatten ungeachtet ihrer vorherigen politischen
Ausrichtung nur noch nationalsozialistischen Propagandavorgaben zu folgen
und wurden zusehends inhaltlich eintönig, auch die ehemals der
Volkspartei zuneigende Hildesheimer Allgemeine und die katholische
Hildesheimsche
Zeitung. Die beiden von diesen Zeitungen unterstützten Parteien
hatten sich bereits Ende Juni bzw. Anfang Juli 1933 aufgelöst.
Für viele Leser scheint
die politische Instrumentalisierung der Zeitungen durch den NS-Staat jedoch
zu weit gegangen sein. Auf der einen Seite stieg in Hildesheim die Nachfrage
nach dem örtlichen NS-Blatt, auf der anderen Seite sank die Auflage
der bürgerlichen Blätter deutlich (Abbildung
1). Viele Leser kehrten den Zeitungen vollständig den Rücken
zu. In Hildesheim kam es deshalb zu einem drastischen Rückgang der
Gesamtauflage, die von rund 45.000 im Jahr 1929 auf nur noch etwa 30.000
Exemplare im Jahr 1937 und damit binnen weniger Jahre um ein Drittel fiel.
Die mittlerweile mit der
ebenfalls katholischen Hannoverschen Volkszeitung verbundene und
in Landespost umbenannte frühere Hildesheimsche Zeitung,
die Anfang der 30er Jahre noch mehr als 11.000 Exemplare abgesetzt hatte,
verkaufte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung täglich
nur noch 8.700 Stück. Die katholischen Leser wandten sich zusehends
von ihrer Landespost ab, die schließlich 1939 nur noch eine
Auflage von 7.400 Exemplaren erreichte und damit in nicht einmal
zehn Jahren mehr als ein Drittel der Leser verloren hatte. Die konfessionell
gebundene Leserschaft fühlte sich von der nationalsozialistisch gleichgeschalteten
ehemals katholischen Presse nicht mehr angesprochen, zumal die Zeitung
verdeckt auch in das Eigentum der NSDAP gelangt sein dürfte.
1939 wurde die Landespost schließlich eingestellt bzw.
vom nationalsozialistischen Hildesheimer Beobachter als Nebentitel
übernommen.
Für das Agieren der
Hildesheimer
Allgemeinen Zeitung im Nationalsozialismus fehlen noch Untersuchungen.
Deutlich scheint jedoch, dass sich die Zeitung bereits recht früh
zumindest einer nationalsozialistischen Begrifflichkeit annahm. So wurde
die Premiere von Bert Brechts „Dreigroschenoper“ im Stadttheater im Februar
1933 als „salonbolschewistische Sumpfblasen“ verunglimpft. Auch die
HAZ verlor gegenüber den 1920er Jahren ein Drittel der Auflage. 1934
musste die Zeitung mit einem Absatz von 10.200 Stück erstmals dem
nationalsozialistischen Hildesheimer Beobachter den Vortritt lassen,
der täglich 11.700 Exemplare verkaufte. Allerdings konnte die HAZ
in den späteren 30er Jahren wieder Leser dazu gewinnen. Nach einem
Tiefpunkt von etwas mehr als 10.000 Exemplaren stieg die Auflage der Gerstenbergschen
Zeitung bis 1939 wieder auf 11.000 an, blieb allerdings damit weiter hinter
der NS-Tageszeitung zurück, die täglich 13.200 Stück verkaufte.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus
ab 1945 erlebte die Hildesheimer Allgemeine Zeitung zunächst
eine zusätzliche Zwangspause von vier Jahren, die alle Verleger einzuhalten
hatten, die im NS-Staat Zeitungen produziert hatten. Die Printmedien galten
in den Augen der anglo-amerikanischen Invasionstruppen als ein zentrales
„powerful instrument in the hands of the ruling group“. Deshalb sollten
nach dem zweiten Weltkrieg Verleger und Journalisten, die nach 1933 bei
irgendeiner Zeitung tätig waren, beim Neuaufbau der Presse ausscheiden.
Die Folge war eine weitere Umwälzung der Presse in Hildesheim.
Den Beginn der Presse machte
zunächst zwar wieder die Buchdruckerei Gebr. Gerstenberg, die im April,
Mai und Juni 1945 lediglich je einmal das Nachrichtenblatt für
Stadt und Land Hildesheim/Veröffentlichungsorgan der Stadtverwaltung
Hildesheim und anderer Behörden herausgab. Von diesem Intermezzo
abgesehen veröffentlichten die Alliierten jedoch anfangs lediglich
eigene Nachrichtenblätter, für Hildesheim den Neuen Hannoverschen
Kurier, der ab Juli 1945 auch eine eigene Hildesheimer Lokalausgabe
bekam (zur Nachkriegspresse siehe hier).
Mit der auf diese Militärzeitungen
folgenden Lizensierung gänzlich neuer und unbelasteter deutscher Zeitungen
sollte es dann zu dem totalen Traditionsbruch im deutschen Zeitungswesen
kommen. Die britische Besatzungszone genehmigte für Hildesheim
ab Anfang Juli 1946 die parteinahen Zeitungen Hannoversche Presse
(sozialdemokratisch), Neueste Hannoversche Nachrichten (christdemokratisch),
Abendpost
(freidemokratisch), Deutsche Volkszeitung (der konservativen ‘Niedersächsischen
Landespartei’ nahe stehend) und Hannoversche Volksstimme (kommunistisch),
die allesamt von gänzlich unbelasteten Verlegern herausgegeben wurden.
Diese Blätter wiesen zwar unterschiedliche Hildesheimer Regional-
oder Lokalteile auf, stammten aber aus Hannover oder Celle. Ergänzt
wurden diese Zeitungen deshalb ab vermutlich 1947 durch den Öffentlichen
Anzeiger für Stadt Hildesheim und Landkreis Hildesheim-Marienburg,
der ab 1948 Hildesheimer Öffentlicher Anzeiger hieß und
nicht von Gerstenberg, sondern vom Verlag Lax in Hildesheim herausgegeben
wurde und wie die früheren Intelligenzblätter lediglich
Anzeigen und Bekanntmachungen enthielt.
Insgesamt gelang es der
Hildesheimer
Allgemeinen Zeitung so über 300 Jahre hinweg, als sich wandelndes
Produkt auf jeweils unterschiedlichen Wegen die vom Wechsel der Zeiten
und Moden geprägten Bedürfnisse der Leser zu stillen - anfangs
als Nachrichtenblatt mit überregionaler Berichterstattung, dann zusätzlich
mit Anzeigen und gelehrten Artikel, später als parteipolitisch engagiertes
Lokalblatt und heute als überparteiliche Heimatzeitung. Die dabei
erfolgende beständige Anpassung an den Lesergeschmack ist neben den
langjährigen rechtlichen und Eigentumskontinuitäten, neben der
Namens- und Produkttradition eine wesentliche stabile Komponente in der
dreihundertjährigen Geschichte der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung. |
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Matysiak Stefan Matysiak:
Kernbereiche des Textes
Für das Agieren der Gerstenbergschen Zeitung im Nationalsozialismus fehlen noch Untersuchungen. Deutlich scheint jedoch, dass sich die Zeitung bereits recht früh zumindest einer nationalsozialistischen Begrifflichkeit annahm. So wurde die Premiere von Bert Brechts „Dreigroschenoper“ im Stadttheater im Februar 1933 als „salonbolschewistische Sumpfblasen“ verunglimpft. Auch die Hildesheimer Allgemeine Zeitung verlor gegenüber den 20er Jahren ein Drittel der Auflage. 1934 musste die Zeitung mit einem Absatz von 10.200 Stück erstmals dem nationalsozialistischen Hildesheimer Beobachter den Vortritt lassen, der täglich 11.700 Exemplare verkaufte. Allerdings konnte die HAZ in den späteren 30er Jahren wieder Leser dazu gewinnen. Nach einem Tiefpunkt von etwas mehr als 10.000 Exemplaren stieg die Auflage der Gerstenbergschen Zeitung bis 1939 wieder auf 11.000 an, blieb allerdings damit weiter hinter der NS-Tageszeitung zurück, die täglich 13.200 Stück verkaufte.
Anders als die Hildesheimsche Zeitung/Landespost überlebte die Hildesheimer Allgemeine Zeitung auch diverse Wellen nationalsozialistischer Zeitungsschließungen. Sie bekam offenbar keine existenzbedrohenden Probleme mit der nationalsozialistischen Pressepolitik und konnte immerhin bis in die Notzeiten des Zweiten Weltkrieges erscheinen. Erst im April des Jahres 1943 „griff der totale Krieg noch einmal tief in das Gefüge des Presseaufbaus ein“. Die Gerstenbergsche Zeitung wurde deshalb aus kriegswirtschaftlichen Gründen mit dem nationalsozialistischen Hildesheimer Beobachter und der Provinzial-Zeitung aus Bockenem zur Hildesheimer Zeitung vereinigt - eine Fusion, deren Geschichte noch im Dunkeln liegt. Mit dem Kriegsende wurde diese Hildesheimer Zeitung schließlich Anfang April geschlossen.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ab 1945 erlebte die Hildesheimer Allgemeine Zeitung eine zusätzliche Zwangspause von vier Jahren, die alle Verleger einzuhalten hatten, die im NS-Staat Zeitungen produziert hatten. Die Printmedien galten in den Augen der anglo-amerikanischen Invasionstruppen als ein zentrales „powerful instrument in the hands of the ruling group“. Deshalb sollten nach dem zweiten Weltkrieg Verleger und Journalisten, die nach 1933 bei irgendeiner Zeitung tätig waren, beim Neuaufbau der Presse ausscheiden. Die Folge war eine weitere Umwälzung der Presse in Hildesheim.
Den Beginn der Presse machte zunächst zwar wieder die Buchdruckerei Gebr. Gerstenberg, die im April, Mai und Juni 1945 lediglich je einmal das Nachrichtenblatt für Stadt und Land Hildesheim/Veröffentlichungsorgan der Stadtverwaltung Hildesheim und anderer Behörden herausgab. Von diesem Intermezzo abgesehen veröffentlichten die Alliierten jedoch anfangs lediglich eigene Nachrichtenblätter, für Hildesheim den Neuen Hannoverschen Kurier, der ab Juli 1945 auch eine eigene Hildesheimer Lokalausgabe bekam.
Mit der auf diese Militärzeitungen folgenden Lizensierung gänzlich neuer und unbelasteter deutscher Zeitungen sollte es dann zu dem totalen Traditionsbruch im deutschen Zeitungswesen kommen. Die britische Besatzungszone genehmigte für Hildesheim ab Anfang Juli 1946 die parteinahen Zeitungen Hannoversche Presse (sozialdemokratisch), Neueste Hannoversche Nachrichten (christdemokratisch), Abendpost (freidemokratisch), Deutsche Volkszeitung (der konservativen ‘Niedersächsischen Landespartei’ nahe stehend) und Hannoversche Volksstimme (kommunistisch), die allesamt von gänzlich unbelasteten Verlegern herausgegeben wurden. Diese Blätter wiesen zwar unterschiedliche Hildesheimer Regional- oder Lokalteile auf, stammten aber aus Hannover oder Celle. Ergänzt wurden diese Zeitungen deshalb ab vermutlich 1947 durch den Öffentlichen Anzeiger für Stadt Hildesheim und Landkreis Hildesheim-Marienburg, der ab 1948 Hildesheimer Öffentlicher Anzeiger hieß und nicht von Gerstenberg, sondern vom Verlag Lax in Hildesheim herausgegeben wurde und wie die früheren Intelligenzblätter lediglich Anzeigen und Bekanntmachungen enthielt.
Eine Rückkehr traditioneller Verleger in das Tageszeitungsgeschäft oder ein Wiederaufleben älterer Zeitungstitel gab es erst nach dem Erlass des Grundgesetzes, als der alliierte Einfluss schwand und Pressefreiheit verkündet wurde. Auch die Hildesheimer Allgemeine Zeitung konnte nun wieder entstehen und musste sich gegen die zuvor gegründeten Parteiblätter durchsetzen. Da die Hildesheimer Allgemeine Zeitung anders als in dem Jahrhundert zuvor nun als überparteiliches Blatt wiedergeboren wurde und die vorher gegründeten Parteizeitungen in der Nachkriegszeit das Interesse der Leser verloren, konnte sie sich durchsetzen und ist heute die einzige Zeitung am Platze. Die Auflage, die nach der Wiedergründung 1949 noch 13.200 Exemplare betragen hatte, stieg schnell und erreichte 1955 bereits 24.700 Stück. 1970 wurden täglich 37.100 Exemplare vertrieben, heute erreicht die Zeitung täglich rund 48.000 Käufer.
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Matysiak, Stefan Matysiak